Neue Studie: Verletzliche Infrastrukturen
Übertriebene Vernetzung und die Geschäftsmodelle der Techkonzerne führen dazu, dass unsere Gesellschaft tendenziell anfälliger wird für Angriffe, aber auch für Störfälle. Die Politik müsse gegensteuern, mahnt der Rat für Digitale Ökologie (RDÖ).
Berlin, 4. Juli 2023 – Die Debatte um Cybersicherheit ist zu sehr verengt auf Gefahren durch externe Attacken. So das Fazit einer neuen Studie, die das Wiener Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) im Auftrag des Rates für Digitale Ökologie (RDÖ) angefertigt hat. Durch die Fixierung auf Cyberangriffe gehe unter, dass die Infrastrukturen mit zunehmender Digitalisierung immer komplexer würden – und damit die Anfälligkeit für folgenschwere Fehler und Störungen zunehme, solange die Politik nicht entschieden gegensteuere.
Nicht immer sind die Maßnahmen zur Digitalisierung von Infrastrukturen notwendig, so die Studie. Häufig ist der Bedarf konstruiert. Dahinter stecken nicht selten Geschäftsmodelle von Tech-Konzernen.
Dadurch wirken die neuen digitalisierten Infrastrukturen wesentlich stärker in den Alltag der Menschen hinein als die alten. „Die Digitalisierung gibt Herstellern besondere Machtmittel in die Hand“, erklärt Matthias Urbach, Geschäftsführender Direktor des Rates für Digitale Ökologie. „Ein Beispiel sind die neuen Möglichkeiten zur Fernabschaltung von Akkus in vernetzten E-Autos oder von Erntemaschinen.“
Fehler schlummern im Verborgenen
Durch den ungebremsten Drang zur Vernetzung entstehen zudem Schwachstellen in der Infrastruktur, die über längere Zeit im Verborgenen schlummern können, bevor sie zu sichtbaren Ausfällen führen oder als Angriffspunkte dienen.
Jüngstes Beispiel dafür sind die 5G-Mobilfunknetze: Diese werden bereits seit vier Jahren errichtet, doch erst in diesem Frühjahr kam das Bundesinnenministerium zu dem Entschluss, die darin verbaute Mobilfunktechnik „Made in China“ näher untersuchen zu lassen.
Hintergrund ist die Sorge, die chinesische Regierung könne diese Technik dafür missbrauchen, das deutsche Handynetz per Fernwartung zu stören oder gar abzuschalten. „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass chinesische Bauteile wieder deinstalliert werden müssen“, urteilt Urbach. „Über so etwas könnte man durchaus vorher nachdenken.“
Das erinnert an den Umgang mit möglichen gesundheitlichen Risiken durch den Mobilfunk. Hier mangelt es noch immer zu wichtigen Fragen an belastbaren Studien, wie zuletzt das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag in seinem Bericht vom Februar feststellte. „Eine digitale Transformation, die ohne vorherige Prüfung und Rechenschaft über Nutzen und Risiken vorangetrieben wird“, sagt Matthias Urbach, „wirft am Ende eine Fülle von gesellschaftlichen, technischen und sicherheitlichen Problemen auf.“
Kein Licht mehr, weil das Update fehlt
Die Probleme mit digitalisierten Infrastrukturen erreichen die Bürgerinnen und Bürger inzwischen auf vielfältige Weise: Wenn Apps das Auto (digitaler Fahrzeugschlüssel) und die Haustür öffnen, wenn Heizung und Licht übers Internet gesteuert wird und der so genannte „Autopilot“ den Familienwagen steuert, dann wird die private Infrastruktur mitunter sehr verletzlich. „Es standen bereits Familien in ihrem Smart Home im Dunkeln“, erzählt Urbach, „weil der Hersteller der Haussoftware keine Updates mehr lieferte“.
Aus Sicht des RDÖ muss die Politik gegensteuern: Es brauche eine nachhaltige und sozialverträgliche Technikgestaltung. „Die digitale Transformation ist kein Naturgeschehen, nichts, was einfach über uns kommt“, resümiert RDÖ-Geschäftsführer Urbach. „Es geht darum, dass der Einsatz von Technologie der Gesellschaft dient, den Bürgerinnen und Bürgern – und nicht umgekehrt.“
Link zur vollständigen Studie:
https://rdoe.org/paper2306
„Digitalisierung, Vulnerabilität und (kritische) gesellschaftliche Infrastrukturen“
Studie des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW)
im Auftrag des Rates für Digitale Ökologie (RDÖ)
Pressekontakt:
+49 (0)30 / 397 177 09
Der Rat für Digitale Ökologie (RDÖ) ist ein Projekt von Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit – gefördert von Allianz Foundation und Schöpflin Stiftung.
Web rdoe.org/presse | Twitter @rdoe_org | LinkedIn Rat für Digitale Ökologie
Über den Rat für Digitale Ökologie:
Der RDÖ setzt sich ein für eine gesamtheitliche Digitalpolitik, die sich am Gemeinwohl orientiert und auf Teilhabe und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Dazu verfasst er Studien, gibt Empfehlungen an die Politik, führt Veranstaltungen durch und stößt zivilgesellschaftliche Bündnisse an.
Ausgangspunkt für die Gründung des Rates war die Erkenntnis, dass die Politik oft nur Einzelaspekte der digitale Transformation betrachtet, obwohl diese längst sämtliche Lebensbereiche durchdringt. Für den Rat ist die entscheidende Frage, ob es uns gelingt, die Digitalisierung nach unseren Werten und Normen zu gestalten – oder ob sich die Abhängigkeit von wenigen globalen IT-Konzernen weiter verstärkt.
Zum Rat gehören: Datenschützer Dr. Stephan Brink, Stadtplanungsexpertin Prof. Dr. Vanessa Miriam Carlow, Transformationsforscherin Prof. Dr. Maja Göpel, Menschenrechtsanwalt Dr. Wolfgang Kaleck, Prof. Andrea Krajewski, Designerin für Mensch-Computer-Schnittstellen, Prof. Dr. Johannes Merck, Vorstandsvorsitzender der Umweltstiftung Michael Otto, Unternehmer Dr. August Oetker, Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Frederike Petzschner, Informatiker Prof. Dr. Peter Reichl, der Experte für nachhaltige Digitalisierung Prof. Dr. Tilman Santarius, Sozialpsychologe Prof. Dr. Harald Welzer sowie die Vorstandsvorsitzende der Entega AG, Dr. Marie-Luise Wolff.