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Die Digitalisierung der Medizin ist existenziell. Gerade deshalb dürfen Gesundheitsdaten nicht dem Silicon Valley überlassen werden.
In aktuellen Debatten werden wahlweise künstliche Intelligenz, autonomes Fahren, Industrie 4.0, Cloud-Dienste oder Smart Devices als “the next big thing” angepriesen, als Wirtschaftswunder, die nebenbei das Klima retten. Ohne Zweifel bringen diese technischen Innovationen große Optimierungspotentiale und Komfortsteigerungen mit sich. Gleichzeitig missachten sie aber regelmäßig die Privatsphäre oder tragen zur Konzentration der Marktmacht auf eine Handvoll Tech-Konzerne bei.

Die Digitalisierung weckt immer wieder Heilserwartungen – gerade in der Medizin. Sie schafft neue Zugangsmöglichkeiten, überbrückt Raum und Zeit und wandelt neben therapeutischen Angeboten auch die Perspektive auf das Mängelwesen Mensch. Hatte bereits der Historiker Michel Foucault erklärt, wie im 18./19. Jahrhundert der »anatomisch-klinische« beziehungsweise der »kalkulierende Blick« der Ärzt:innen entstand, erfährt die ärztliche Kunst des Beobachtens und Diagnostizierens in der digitalen Gegenwart ein algorithmisches Update.

Aktuell haben vor allem die Konzerne des Silicon Valley in der digitalen Gesundheitsfürsorge ihr Potenzial erkannt und wollen mittels Big Data und künstlicher Intelligenz (KI) neue Märkte erschließen. Während Alphabet (Google) mit allerhand Subunternehmen an KI-Anwendungen arbeitet, die auf Basis algorithmischer Musteranalyse bei der Diagnose und Behandlung von Krankheiten helfen sollen, erfindet sich Apple als Forschungsinfrastruktur neu. So launchte der Konzern eine hauseigene »Research App«, über die Kund:innen via Smartwatch mit Datenspenden an medizinischen Studien partizipieren können, und erforscht seither Bereiche von der Herzgesundheit bis hin zum weiblichen Zyklus. Wenig verwunderlich, dass CEO Tim Cook feierlich erklärt: »Wenn wir in die Zukunft schauen, von dort zurückblicken und uns die Frage stellen, was der größte Beitrag Apples für die Menschheit war, wird die Antwort lauten: Gesundheit.«

Gesundheit ist im Silicon Valley vor allem eine Frage der Technik. Antworten findet, wer sensible Informationen extrahiert, aggregiert und korreliert – kurz: wer über die größten Datenbanken verfügt. Immer neue Geräte, Apps oder telemedizinische Services stehen dann auf dem Beipackzettel, um bei Praxis Dr. Zuckerberg (so der Titel einer Arte-Dokumentation) vorzusprechen. Hals und Beinbruch, was kann schon schiefgehen? Vieles, schaut man auf die Entscheidung des Supreme Courts der Vereinigten Staaten, der jüngst die Regeln für Abtreibungen radikal verschärfte. Schnell löschten tausende Frauen Zyklustrackingapps, Suchverläufe oder Ortungsdaten ihrer Smartphones, weil die Daten nicht mehr sicher schienen. Wieder einmal lautet die Erkenntnis: Persönliche Daten sind nicht unpolitisch und ein unkontrollierter Umgang mit ihnen ist nicht unproblematisch.

Deswegen folgt man in Europa Vorstößen der Datenregulierung (Stichwort: Datenschutz-Grundverordnung). Damit fühlen wir uns sicherer, wandeln etwas unbekümmerter in Visionen, die uns mit den Vorzügen des »smart hospitals« oder den vier P’s (predictive, personalized, preventive, participatory) digitaler Medizin umschmeicheln und uns qua Smartwatch medizinisches Empowerment – vom Schlaftracking bis zum eigenen EKG – verheißen. Wer Visionen hat, soll bekanntlich zu Ärzt:innen gehen und natürlich, dies wusste schon der Philosoph Bernard Stiegler, ist digitale Technik ein »Pharmakon« – ein unausweichliches Gift mit heilsamen Potenzialen. Deswegen bedarf es eines wirklichen Nachdenkens, das heißt Visionen, die die Welt nicht nur verändern, sondern die (digitale) Veränderungen interpretieren.

Die Digitalisierung der Medizin ist nicht einfach schön und gut, sie ist essenziell, zuweilen existenziell, und so bleibt wichtig zu betonen, dass in gespendeten Gesundheitsdaten verborgene Erkenntnisse stecken; dass wir unsere Akten digitalisieren, unsere Systeme auf Interoperabilität eichen sollten. Allzu häufig halten wir uns im Klein-Klein auf, üben uns in Nostalgie (Fax als gelebter Anachronismus), um dann – besonders in Krisen – vor der ungesunden Wahl zu stehen: Pest oder Cholera? Big State oder Big Tech? Es könnte auch anders sein, es könnte Alternativen geben: Organisationen, die Data Commons, Data Trust und Open Source wirklich ernst nehmen; die die Möglichkeiten der Datenspende nicht auf das Data-Sharing mit Konzernen kürzen; die Datensouveränität mit -solidarität, ›smarte‹ Teilnahme und demokratische Teilhabe verbinden – und die Risiken und Nebenwirkungen digitaler Infrastrukturen nicht leugnen, sondern therapieren.

Initiativen dazu gibt es: Neben lohnenden genossenschaftlichen Experimenten – von midata.coop bis hippo.ai –, die autonomes Datenspenden transparent, kooperativ und gemeinnützig organisieren, geht man in der EU nebst Datenregulierung an die Konstruktion eines European Health Data Space. Langsam bewegt sich etwas, langsam wird der Gang durch die Institutionen durch den Aufbau neuer ergänzt. Doch ob aus den Möglichkeiten heilsame Wirklichkeiten entstehen, liegt vor allem an uns digitalen Nutzer:innen – und daran, ob wir den medizinischen Blick auf uns verändern, den Wert unseres kollektiven Datenkörpers erkennen.


 

RAHEL GUBSER UND FELIX MASCHEWSKI gehören zum Arbeitskreis für zukunftsfähige Digitalität, der mit dem Rat für digitale Ökologie zusammenarbeitet. An dieser Stelle hinterfragt der Arbeitskreis digitale Entwicklungen aus sozialökologischer Perspektive.

Erschienen in der taz FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik, Ausgabe 22